Das Gottesurteil

Das Gottesurteil oder Ordal ist ein Mittel sakraler Rechtsfindung, das auf der Vorstellung beruht, ein Urteil über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten durch ein Zeichen Gottes erhalten zu können. Erste schriftlich überlieferte Beschreibungen von Gottesurteilen stammen aus dem frühen Mesopotamien. Im 10. Paragrafen des Kodex Ur-Nammu, des sumerischen König Urnammu von Ur  aus dem 20. Jahrhundert v. Chr.,  ist die Rede von einem Flussordal, einer Art Wasserprobe. Des Weiteren sind im Kodex Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. in den Paragrafen 2. (Zauberei) und 132. (Verleumdung der Ehefrau) Gottesurteile beschrieben, die mithilfe des Wassers ausgeführt wurden. Selbst das Alte Testament erwähnt die Anwendung von Gottesurteilen so in Numeri 5,11-31 oder 1. Samuel 10,17-27. Auch im alten China, in Japan, Indien und Ägypten kannte man Gottesurteile. In der griechischen Kultur kamen Gottesurteile selten vor. Das spätantike römische Recht hingegen kannte keine Gottesurteile. Im Spätmittelalter galten neue Beweisregeln in der Prozessführung. Dadurch verloren Gottesurteile beträchtlich an Bedeutung. Jedoch in den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit wurden Sie wieder verstärkt praktiziert. In manchen Kulturen haben sich Gottesurteile bis heute gehalten, so etwa bei einigen Völkern und Volksgruppen Schwarzafrikas oder bei den Beduinen des Negev. Gottesurteile gab es in den verschiedensten Ausprägungen. Das uralte Recht der Beduinen kennt ein besonders radikales Gottesurteil: die Feuerprobe. Der Proband musste ein heißes Eisen mit bloßen Händen tragen. Verheilten die entstandenen Brandwunden danach ohne Probleme, galt seine Unschuld als erwiesen. Auch die Wasserprobe war extrem. Bei diesem Gottesurteil wurde der gefesselte Proband an einer Leine gehalten, ins Wasser geworfen. Ging er unter, so galt er als unschuldig und wurde zurück an Land gezogen. Da dies häufig nicht schnell genug geschah, ertranken bei diesem Gottesurteil öfter auch Unschuldige. Ein Gottesurteil, das auch literarisch verarbeitet wurde, war die Blutprobe.

Diesem Ordal lag die Vorstellung zugrunde, ein Leichnam begänne in der Nähe seines Mörders erneut zu bluten. So geschehen im mittelalterlichen Epos der Nibelungen, als Hagen von Tronje an der Bahre Siegfrieds steht. Zwei im Mittelalter besonders häufig praktizierte Gottesurteile waren das Losordal und der Zweikampf. Bei letzterem wurden beide im Rechtsstreit befindlichen Parteien an der Wahrheitsfindung beteiligt. Die streitenden Parteien mussten so lange gegeneinander kämpfen, bis einer von ihnen den Gegner überwältigte. Der Sieger des Zweikampfes hatte damit erwiesen, dass er unschuldig war, für seinen Gegner bedeutete die Niederlage den Schuldspruch. Beim Losordal zogen Kläger und Beklagter ein Los. Schuld oder Unschuld wurde durch dieses Los bestimmt. Weitere Gottesurteile zur Wahrheitsfindung waren die Kreuzprobe, die Bissenprobe, der Kesselfang oder die Abendmahlsprobe.


Ordale waren weitverbreitet, dienten aber dennoch stets nur als letzter Ausweg, um die Wahrheit zu ermitteln. Üblicherweise wurden im Vorfeld einer Wahrheitsermittlung zunächst Zeugen benannt, die für oder gegen den Angeklagten aussagen konnten. Fehlte es an geeigneten Zeugen, verließ man sich auf sogenannte Eideshelfer, das war eine Gruppe von ein oder zwei Dutzend Personen, die mit ihrem Eid den Kläger oder Beklagten unterstützten. Wenn dann immer noch kein eindeutiges Urteil gefällt werden konnte, griff man auf Gottesurteile zurück. Gottesurteile waren jedoch bereits seit dem 9. Jahrhundert nicht mehr unumstritten.  Der Erzbischof  Agobard von Lyon (* um 769 ; † 840), ein wichtiger Kirchenmann und geistlicher Würdenträger seiner Zeit, lehnte Gottesurteile mit der Begründung ab,  dass sich für diesen Brauch keine Präzedenzfälle in der Bibel finden ließen. Außerdem argumentierte er, wenn Gottesurteile wirklich funktionieren würden, warum greife man dann auf sie als Letztes und nicht als erstes Mittel zur Wahrheitsfindung zurück? Allerdings unterstützte die Kirche Gottesurteile.  Der Beschluss der Synode von Tribur im Jahr 895, sah für Vorbestrafte die Feuerprobe mit Eisen oder die Wasserprobe vor. Mit diesem Beschluss wurden Gottesurteile auch offiziell in die kirchliche Praxis aufgenommen. Die Päpste hingegen hielten sich bezüglich der Gottesurteile weitgehend zurück und bekämpften sie ab dem 10. Jahrhundert sogar als Aberglaube.  Durch das Verbot von Gottesurteilen aufgrund der Bestimmungen des IV. Laterankonzils unter Papst Innozenz III. verschwanden die Gottesurteile im 12. und 13. Jahrhundert in Europa allmählich aus dem Rechtsleben und wurden weitestgehend durch weltliche Gesetzgebung ersetzt.  Im  Zusammenhang mit der Ketzerverfolgung sowie der Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit lebten Gottesurteile teilweise wieder auf.  In erster Linie ist hier die Wasserprobe zu nennen; aber auch die Feuerprobe fand manchmal noch Anwendung. Das Oben treiben einer Hexe auf dem Wasser war nach frühneuzeitlicher Auffassung aber nicht mehr das Ergebnis einer göttlichen Wunderwirkung, sondern vielmehr auf die Eigenschaften der Hexe zurückzuführen.

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